Ich war so gern in Aquarien, stand lange vor den Becken mit durchsichtigen, von der Seite beleuchteten Quallen, und habe bis jetzt nicht begriffen, was eine Qualle eigentlich ist. Wie ist ihr Gefühlsempfinden? Wie viel nimmt sie wahr, wenn überhaupt? Und ganz sicher weiß sie nicht, dass sie im Alltag anderer Lebewesen nur eine schöne, wässrige Nebenerscheinung ist, dass jemanden das gerade vielleicht fasziniert, dass jemand gerne eine Erklärung von ihr hätte. Aber gäbe es eine, dann wäre sie nicht mehr, was sie ist. Langsam spannt sie sich und bewegt sich per Rückstoßprinzip im Wasser, als wüsste sie, wohin, und doch bin ich mir sicher, dass sie gar nichts weiß, und es für einen Moment erscheint die Diskrepanz zwischen menschlichen Kategorien und der Welt eben dieser Qualle schlimm, gar unerträglich und unfair. Wir glauben, so viel zu wissen, aber dieses Wesen kann ich mir nicht erklären. Wenn ich doch nur für einen winzig kleinen Augenblick sie sein könnte! Wie fühlt es sich an, nicht aus Knochen, Haut und Organen, sondern zu 99% aus Wasser und sonst aus Membran zu bestehen und statt Fingern, die gerade ein wenig kalt sind und Tasten drücken, lange, durchsichtige Tentakel zu besitzen, die so leicht im Wasser schweben? Sie ist so fremd. Ich werde nie mit ihr sprechen können, sie höchstens berühren, wenn ich viel Glück habe, die Tragik der Situation wird uns so selten bewusst. Wer bist du? Wie geht es dir gerade? Ist es anstrengend, deinen ganzen Körper immer wieder zusammenzuziehen? Hast du manchmal Hunger? Ich weiß doch, dass da etwas sein muss, ganz eindeutig, denn du lebst.
Wie können wir nur mit diesen Bruchteil allen möglichen Empfindens zufrieden sein, wenn all die fremden Welten, die wir so zum Zweck der Inspiration und Unterhaltung suchen, vollkommen
real und direkt in unserer Nachbarschaft zu finden sind? Hier, die Ameise, die viele Bäume, Lebenswelten unter der Erde und unter Wasser, eine Krähe im Flug, wer seid ihr und - kennt ihr uns?
Es sind nicht nur Tiere und Pflanzen und Pilze, auch wenn das schon genügt, um über all dem wahnsinnig zu werden - was ist mit dem Gegenüber? Mit dem menschlichen Wesen, das neben uns sitzt - es kann uns zwar seine Gefühle und Ängste, Vorstellungen und Gedanken verschlüsselt mitteilen und wir gehen grob davon aus, das es wohl auch einen ähnlichen Raum in ähnlicher Farbe vor sich sieht - aber dieses Wesen besteht aus einem anderen Satz Moleküle als man selbst, zufällig zu einem hohen Prozentsatz gleich zusammengesetzt, es hat ein eigenes Gehirn aus fremdem Stoff, kennt die Welt um sich herum nur dadurch und fühlt Dinge, die man selbst nicht ahnt, wie man auch das Gefühl einer Qualle, wenn sie gerade ihre Beute verdaut, nicht nachempfinden kann. Und egal was wir versuchen, wir werden nie mehr begreifen, als das, was wir in unsere begrenzten Kategorien pressen und verarbeiten können. Manchmal wäre ich lieber eine Qualle, die sich darüber gar keine Gedanken machen muss - aber wer weiß das schon so genau?

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